22 Bahnen – ein kleines Meisterwerk über Liebe, Last und Loslassen

Titelfoto: Constantin Film
Es gibt Filme, die wollen gesehen werden, und Filme, die wollen gespürt werden – ihre Bildgewaltigkeit ist dabei kein Selbstzweck, sondern Teil der stillen Kraft, die den Zuschauer ergreift. “22 Bahnen“, inszeniert von Mia Maariel Meyer nach dem Bestseller von Caroline Wahl, gehört unmissverständlich zu dieser zweiten Kategorie. Es ist die Geschichte von Tilda (Luna Wedler), die zwischen Studium, Supermarktkasse, der Verantwortung für ihre Schwester Ida (Zoë Baier) und einer alkoholkranken Mutter (Laura Tonke) nach Befreiung sucht – von der Last der Vergangenheit wie von der Schwere des Gegenwart. Klingt auf dem Papier wie ein Sozialdrama, doch auf der Leinwand ist es ein leises Beben, ein Fließen, ein Atemholen zwischen Schwimmbecken, tiefer nicht verheilter Wunden und Verantwortung. Vor allem aber trägt “22 Bahnen” die Kraft einer großartig erzählten Geschichte.

Luna Wedler spielt Tilda mit einer stillen Intensität, die jede Geste trägt. Ihre Figur wird zum Inbegriff von Fürsorge und Selbstbehauptung.
Zoë Baier schenkt Ida eine berührende Mischung aus Unschuld und Klarheit und macht sie zum emotionalen Herz des Films.
Jannis Niewöhner verkörpert Viktor als leisen Gegenpol – nicht Retter, sondern Spiegel einer gemeinsamen Vergangenheit, in der Tildas Verletzlichkeit ebenso aufscheint wie das Trauma das sie teilen.
Laura Tonke brilliert als Mutter, deren Zerrissenheit sie schmerzhaft echt verkörpert. Ihre Leistung überragt die Härte einer Figur, die Verantwortung verweigert.

Fazit:

22 Bahnen“ ist unaufdringlich, leise, tief, zu keinem Zeitpunkt voyeuristisch, nicht wertend, nicht morallaut – und doch von einer schreienden Stärke. Die Kamera bleibt einen halben Schritt zurück, als hätte sie Respekt vor dem Inneren der Figuren. Sie beobachtet nicht, um zu entblößen, sondern um die Wellenbewegung von Nähe und Distanz fühlbar zu machen. Gerade weil Meyer das Laute verweigert, entstehen die großen Gefühle: Scham, Zärtlichkeit, Wut – und diese eigentümliche Form von Hoffnung, die man eher atmet als begreift. Genau diese Sensibilität trägt die stille Parabel der Emanzipation, die nie verklärt und doch Trost anbietet, sowie die behutsame, klare Regie, die der Vorlage Luft und den Figuren Würde lässt.

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In “22 Bahnen” offenbart sich so ein Meisterwerk im Kleinen – ein Film, der zeigt, dass wahre Größe im Erzählen liegt. Nicht, weil der Plot Überraschungen wie Feuerwerk verschießt, sondern weil der Film Zeit gewährt: Zeit für Routinen (die titelgebenden Bahnen im Becken), Zeit für Blicke, die sich an der Wasseroberfläche brechen, Zeit für das Aufwachsen in engen Räumen, das unabwendbare Sich-selbst-Erfinden, in der die Ausfahrt nach Berlin nicht nur geografisch, sondern metaphysisch ist. Auf der Leinwand entfaltet die Adaption die Seele von Caroline Wahls Roman – ein feines, kraftvolles Geflecht aus Fürsorge und Selbstbehauptung.

Der Vogtlandstreicher verleiht 5 von 5 Punkten (und hätte gerne noch einen sechsten gegeben).

Nachrichten Vogtland
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Foto: Constantin Film

Altersfreigabe: 12

Erscheinungsdatum:  September 2025

Genre: Drama

Tildas (Luna Wedler) Tage sind streng durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, schwimmen, sich um ihre kleine Schwester Ida (Zoë Baier) kümmern – und an schlechten Tagen auch um ihre Mutter (Laura Tonke). Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor (Jannis Niewöhner) taucht auf, der große Bruder von Ivan, den Tilda fünf Jahre zuvor verloren hat. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends außer Kontrolle …

  • Regie: Mia Maariel Meyer
  • Verleih: Constantin Film
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Nach 20 Jahren Krieg, Krise und dem großen Ganzen journalistisch in das beschauliche Vogtland gewechselt. Ein Momentesammler und Geschichtenerzähler. Neugierig, nahe an den Menschen und manchmal ein bisschen frech. :) Autorenprofil/Vita