Großexperiment: Wie 300 Erdbeben-Messstationen das Vogtland erspüren

Es beginnt leise. So leise, dass die meisten Menschen im Vogtland und Nordböhmen nichts davon bemerken. Ein kaum messbares Zittern, tief unter der Erde, irgendwo zwischen den sanften Hügeln und alten Fachwerkdörfern. Keine Erschütterung, die Tassen klirren lässt – und doch geschieht es tausendfach: winzige Beben, die sich wie Perlen auf einer unsichtbaren Kette aneinanderreihen.

Das Vogtland zählt zu den wenigen Regionen weltweit, in denen Schwarmbeben regelmäßig auftreten. Seit Jahrhunderten bebt hier immer wieder der Boden, ohne dass ein zerstörerisches Hauptbeben folgt. Die genauen Ursachen dafür sind bis heute nicht vollständig geklärt, wie Forschende des Helmholtz-Zentrums Potsdam betonen.

Ein Landstrich in Bewegung

Um die geologischen Besonderheiten des Vogtlandes und Nordwestböhmens zu verstehen, muss man weit zurückblicken. Vor rund 320 Millionen Jahren kollidierten die Urkontinente Gondwana und Laurussia. Die Varisziden, ein Faltengebirge, wölbten Europa auf, die Kruste verdickte sich, Störungen und Scherzonen wurden ins Gestein geschrieben. Später, im Tertiär, als Afrika unablässig gen Norden drängte, öffneten sich neue Brüche, Risse, Dehnungszonen. In diese Schwächezonen drangen Magmen ein, erstarrten, ließen Wärmereste zurück. So entstand das Egerbecken – eine Tektoniklandschaft, die zugleich vulkanisches Erbe und geologisches Versprechen ist.

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Schwarm Erdbeben Vogtland
Foto: Chmee2  | CC BY 3.0 – Mofette im Soos (Tschechien)

Noch heute kündet die Region von dieser Vergangenheit: Thermalquellen speisen Bäder in Böhmen und Bayern; Mofetten – kalte CO₂-Austritte – blubbern in Wiesen; die Luft schmeckt mancherorts leicht metallisch. In der Nähe von Železná Hůrka (Eisenbühl), einem kleinen Vulkankegel, liegen die letzten sichtbaren Spuren junger Eruptionen. Und unter alledem: ein komplexes Geflecht aus Störungen und Zonen, in denen Fluide und möglicherweise auch kleine Mengen partiell geschmolzenen Gesteins zirkulieren.

Das Rätsel der Schwärme

Trotz dieser vulkanischen Vergangenheit liegt das eigentliche Rätsel nicht in sichtbaren Kratern oder Lavaflüssen. Es sind die Schwarmbeben, die seit Jahrhunderten im Egerbecken auftreten – mal schwächer, mal intensiver.

Der letzte große Schwarm ereignete sich 2024 nahe Klingenthal. Über Wochen registrierten Seismographen mehr als 10.000 einzelne Erschütterungen – fast alle zu schwach, um sie zu spüren.

Der aktuelle Erdbebenschwarm weist in mehrfacher Hinsicht Besonderheiten auf: Die Herde liegen deutlich entfernt von aktiven Vulkangebieten, dennoch deuten geophysikalische Hinweise auf das mögliche Vorhandensein von Magma oder Fluiden in tieferen Gesteinsschichten hin. Für Geologen ist das ein Rätsel – und eine Einladung.

Ein beispielloses Großexperiment Labor unter freiem Himmel

Genau hier setzt ein neues Großexperiment an, das Geowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus Deutschland und Tschechien seit diesem Sommer aufbauen. Ein „Large-N“-Netz („N“ steht in der Seismologie für die Zahl der Sensoren) soll den Untergrund mit bisher unerreichter Dichte abtasten. Jede Station misst die Bodenbewegung in drei Richtungen, speichert die Daten und überträgt sie in regelmäßigen Abständen. Über 12 bis 18 Monate entsteht so ein 4-D-Datensatz: Raum, Tiefe, Zeit – und die feine Frequenzstruktur der Erschütterungen.

Erdbeben Vogtland Forschung

Hinter dem Projekt stehen Teams aus Potsdam, Dresden, Prag, Leipzig, Jena, München, Erlangen, Münster – viele Hände, viele Blickwinkel. Die Logistik ist enorm: Grundstücke abstimmen, Stromversorgung sichern, Vandalismusschutz organisieren, Grenzformalitäten klären. In jedem Kofferraum: Ersatzakkus, SD-Karten, Bodendübel, Kabelbinder. Zwischen dem Ausrollen der letzten Station und dem Abbau der ersten Datenspeicher vergehen Monate, in denen Server rauschen, Algorithmen lernen, Fehlalarme sortiert werden. Aus Rohdaten werden Ereigniskataloge, aus Katalogen Tomografien, aus Tomografien Hypothesen, aus Hypothesen neue Messpläne. Es ist die stille, geduldige Seite der Wissenschaft – und die Voraussetzung für alles, was sich später als einfache Grafik im Zeitungsartikel darstellen lässt.

Erste Studien aus früheren Projekten haben gezeigt: Unter dem Egerbecken befindet sich eine Zone in 15 bis 25 Kilometern Tiefe, in der die Erdbebenwellen langsamer werden – ein Hinweis auf teilgeschmolzenes Gestein.

Wenn sich bestätigt, dass Magma tatsächlich bis in zehn Kilometer Tiefe aufsteigt, wäre das nicht nur eine wissenschaftliche Sensation, sondern auch entscheidend für die Einschätzung möglicher Gefahren.

Wozu das alles?

Die erste Antwort ist wissenschaftlich: Grundlagenforschung. Wer versteht, wie sich Fluide in der Tiefe bewegen, lernt auch, wie Erdbeben beginnen – und warum sie manchmal nicht groß werden. Das ist mehr als akademische Neugier. In einer Welt, in der sich Siedlungen in lange ruhenden Vulkanprovinzen ausbreiten und kritische Infrastruktur (Pipelines, Speicher, Halden) selbst auf mäßige Erschütterungen empfindlich reagiert, kann Wissen zur Risikominderung beitragen.

Die zweite Antwort ist ganz praktisch: Überwachung. Ein dichteres regionales Netz, geschult an Large-N-Daten, kann künftig kleinste Veränderungen schneller erkennen. Vielleicht nicht, um „das große Beben“ auf die Minute vorherzusagen – doch um Phasen erhöhter Aktivität zu markieren, Kommunen zu informieren, Bäderbetriebe und Tourismus sachlich einzubinden, Bauvorschriften zu justieren, Messnetze zu verstärken. Wer weiß, wann es sinnvoll ist, genauer hinzusehen, handelt klüger.

Die dritte Antwort ist eine Frage der Energiezukunft. Wärmeströme, Permeabilität, Fluidwege – all das bestimmt, wo geothermische Nutzung technisch und ökologisch verantwortbar ist. Dort, wo natürliche CO₂-Austritte existieren, braucht es Sorgfalt: für Mensch, Tier, Umwelt. Gute Modelle helfen, Gefahrenzonen zu definieren, Monitoring zu planen – und Chancen wie CO₂-Speicherung in tiefen Gesteinsschichten nüchtern zu bewerten.

Die Ergebnisse werden nicht an einem Tag kommen. Eher in Wellen: erste Vorabkarten, dann verfeinerte Inversionen, später gemeinsame Interpretationen mit den Gas- und Geodaten. Öffentlich finanziert, sollen die Daten offen zugänglich sein – ein wichtiger Schritt, denn nur wer teilen kann, kann überprüfen und verbessern. Die spannendsten Überraschungen entstehen häufig zwischen den Disziplinen.

Erdbeben Vogtland Forschung
Foto: Idmo | CC BY-SA 2.0 de – Die Landschaft des Soos-Mineralmoors
Ein fiktiver Blick ins Moor

Gegen Mittag hat die Sonne den Schleier über Soos gelichtet. Station 167 blinkt grün: online. Ein Traktor knattert über einen weit entfernten Feldweg. Auf der Messspur wird man ihn als breites, langsames Brummen erkennen. Dazwischen, tief unten, huscht ein Mikrobeben vorbei – wenige Zehntelsekunden, kaum mehr als ein Zucken. In Monaten wird es zusammen mit Tausenden anderen zu einem Muster gehören, das heute noch niemand sieht.

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Nach 20 Jahren Krieg, Krise und dem Großenganzen journalistisch in das beschauliche Vogtland gewechselt. Ein Momentesammler und Geschichtenerzähler. Neugierig, nahe an den Menschen und manchmal ein bisschen frech. :) Folge mir doch auf X (ehemals Twitter)