Titelfoto: Roland Barwinskys Arbeitsplatz im Jahr 1989
Dem Mauerfall in Deutschland im November 1989 gingen bewegte Wochen voraus. Roland Barwinsky, 1963 in Sachsen-Anhalt geboren, erinnert sich:
Der 9. November 1989 war die bewegendste Nacht der jüngeren deutschen Geschichte die ich verschlafen habe, weil es in unserem Haushalt keinen Fernseher sowie Telefon gab und deshalb die bahnbrechende Pressekonferenz eines holprig wirkenden SED-Funktionärs an uns vorüberzog. Umso mehr staunte ich am anderen Morgen, einem nebligen Freitag.
Im Radio schwelgten euphorisch wirkende Bürger aus der „Ohne-Bananen-Republik“ in Erinnerungen. Sie berichteten von nächtlichen Besuchen auf dem Ku‘damm in West-Berlin. Sätze wie „Die Mauer ist weg“ oder „Die Grenzen sind offen“ fielen immer wieder.
Schlangen vor der Polizei – ein Land im Aufbruch
Wie gewohnt, brachte mich der Frühbus in eine Zentralbibliothek, meine damalige Arbeitsstelle. Die befand sich in einem kleinen ostthüringischen Ort. Vorbei ging es an dem Volkspolizei-Kreisamt der vogtländischen Stadt, wo ich damals wohnte. Riesige Menschenschlangen bildeten sich davor. Alle wollten den begehrten Ausreise-Stempel, alle wollten in den Westen. Ich nicht. Jedenfalls nicht sofort. Das gefühlte Chaos an den Grenzen schien mir zu groß zu sein.
Ende November gelang zusammen mit meiner damaligen Freundin doch noch der Seitenwechsel. Und zwar über die berühmte Glienicker Brücke zwischen Potsdam und West-Berlin, wo einst hochkarätige Spione zwischen Ost und West ausgetauscht wurden. Zubringer lotsten uns in das Zentrum der wohl schillerndsten Stadt des Kalten Krieges. Von dort ging es flugs nach Kreuzberg. Dass dieser Stadtbezirk ein ganz besonderes Refugium war, wussten wir.
Bunte Aussteiger, schräge Hausbesetzer, schrille Typen überall, eben das ganze Kontrastprogramm live! Das musste begutachtet werden! Mein Begrüßungsgeld reichte für einige heiß ersehnte Scheiben von „Ton Steine Scherben“, der irren Band um Rio Reiser, welche jahrelang den musikalischen Soundtrack für unvergessene Kreuzberger Szenenächte lieferte. Der Heimweg war müßig. Von Ost-Berlin bis tief hinein in den Süden des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden – so etwas dauerte.
Spannungen im Vorfeld des Mauerfalls
Zugespitzt hatte sich die Lage zwischen Ostsee und Erzgebirge nach der Kommunalwahl Anfang Mai. Dieses „Zettelfalten“ galt zuvor als ungeliebte Pflicht. Aber dieses Mal konnte die ostdeutsche Opposition den Wahlbetrug nachweisen. Parallel dazu kündigte die ungarische Regierung den Abbau der Grenzanlagen zu Österreich an.
Umgehend ging ich zur Polizei, um eine “Reiseanlage für den visafreien Reiseverkehr” für Bulgarien zu beantragen. Unruhe lag in der Luft. Anfang August begann meine letzte Tour durch den sich gerade auflösenden Ostblock. Fluchtwillige DDR-Bürger suchten bereits verstärkt die bundesdeutsche Botschaft in Budapest auf. Eine befreundete deutsche Familie in Siebenbürgen erzählte auf der Durchreise von dem Paneuropäischen Picknick an der ungarischen Grenze, von wo aus hunderte Ostdeutsche ungehindert nach Österreich liefen.
Auf der Heimreise sprach uns in Budapest ein Taxifahrer an, ob wir uns nicht zu den DDR-Bürgern in den Flüchtlingslagern gesellen wollten. „Alle von dort fahren bald in den Westen“, sagte der Mann. Erstaunlich, erstmals gab es in diesem Spätsommer ausreichend Platzkarten für den Zug nach Dresden. Früher war das in der Hochsaison kurzfristig völlig undenkbar gewesen.
Zu Hause bereitete sich die Arbeiter- und Bauernrepublik fieberhaft auf ihren 40. Jahrestag vor. Montagsdemos in Leipzig gewannen an Zulauf und Ausreisewillige fanden ein neues Schlupfloch – das Palais Lobkowitz in Prag. Alle kennen die bewegenden Bilder und den Auftritt des damaligen Außenministers Genscher in der Botschaft.
Züge fuhren wenig später bis nach Hof, über DDR-Gebiet, eine logistische Fehlleistung der ostdeutschen Noch-Machthaber in Reinkultur. Jetzt explodierte das Pulverfass. In Dresden, in Reichenbach und anderswo. Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, hielt ich mich in Leipzig auf. Von dieser Stadt aus schaffte es eine Ausreisewillige zuvor legal nach drüben. Von ihr bekamen wir rechtzeitig den passenden Wohnungsschlüssel.
Friedliche Revolution und das Ende der DDR
Leipzig geriet in Bewegung. Straßenbahnen stoppten weit vor dem Zentrum. Der 9. Oktober brachte in dieser Stadt die Entscheidung. Die Friedliche Revolution siegte. In Plauen gingen am letzten Geburtstag der ostdeutschen Republik ebenfalls Tausende auf die Straßen. Eine beherzte Rentnerin schmuggelte Aufnahmen davon ins Oberfränkische. Und so erfuhr die ganze Bundesrepublik davon.
